AI First anstatt Mobile First – Paradigmenwechsel in der KI-Forschung

Im März 2016 war etwas Besonderes geschehen, obwohl es dennoch an der breiten Öffentlichkeit weitgehend vorbeiging: Lee Sedol, einer der weltbesten Go-Spieler, wurde von Alpha Go, der künstlichen Intelligenz von Google in dem chinesischen Strategie-Spiel geschlagen. Go gilt als eines der komplexesten Brettspiele und die meisten KI-Experten hätten dieses Ereignis frühestens 10 Jahre später erwartet. Zum ersten Mal hatte man eine Technologie geschaffen, die das Potential haben sollte, nicht nur die physische Arbeitskraft des Menschen zu ersetzen, sondern das höchste und exklusivste menschliche Gut überhaupt: die Fähigkeit zu denken.

AI First anstatt Mobile First – Paradigmenwechsel in der KI-Forschung

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass Google und China künstliche Intelligenz nun in das Zentrum ihres Schaffens gestellt haben. Statt „Mobile First“ heißt es nun „AI First“. Aber was bedeutet das eigentlich? Software war ja immer in der DNA von Google präsent. Allerdings fand GOFAI (good old fashioned AI) zum Großteil auf der symbolischen Ebene statt. Man bildet die Realität über ein Set von Regeln und Programmier-Logik ab. Das hat zu Anfangs- Erfolgen geführt, allerdings waren Projekte wie Bilderkennung, automatisierte Übersetzungen und Spracherkennung nur bedingt nutzbar, da unsere Realität zu komplex ist, um sie über unflexible Regeln erfassen zu können.

Aber wie war Alpha Go in der Lage, Menschen zu schlagen, die über Jahrzehnte hinweg zu Meistern ihrer Klasse geworden waren? Man bediente sich einer Idee aus der Biologie, die eigentlich schon viele Millionen Jahre alt war: Evolution funktioniert über Trial und Error. Bestimmte Verhaltensweisen oder Körperfunktionen tragen zum Überleben einer Spezies bei und tauchen dann in der nächsten Generation wieder auf. Spezifische Eigenschaften wurden also verstärkt, weil sie zum Überleben des Organismus geführt haben. Beim sogenannten Reinforcement Learning in der KI gibt es einen ähnlichen Mechanismus: ein Agent bewegt sich in einer Realität und lernt über Trial und Error, welche Verhaltensweisen zielführend sind. Diese werden dann verstärkt oder eben nicht.

In der KI-Forschung fand also in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel statt. Man hat begonnen, das menschliche Gehirn zu simulieren. Über neuronale Netze, also eine Art künstliches Gehirn füttern wir das System mit Input-Daten und lassen es Muster erkennen und lernen. Ganz so wie ein Kind lernt zu laufen und sich über Trial und Error langsam seine Welt erschließt, so lernt die KI Katzen und Hunde zu unterscheiden, sich in einer maschinellen Produktionsumgebung zu bewegen oder Sätze vom deutschen ins englische zu übersetzen. Symbolische Programmierlogik (Top down) wird nun mehr und mehr durch „Lernen aus Erfahrung“ (Bottom up) ersetzt.

AI First bei Google heißt also, dass Produkte und Prozesse bei Google statt durch traditionelle Programmierlogik sukzessive durch maschinelles Lernen erzeugt werden. Was könnte das konkret für deutsche Unternehmen bedeuten? Haben wir nicht gerade erst damit begonnen, unsere Firmen zu digitalisieren und sind noch lange nicht da, wo wir gerne sein würden? Und jetzt sollen wir schon gleich auf den nächsten Trend aufspringen?

Im englischen gibt es in diesem Zusammenhang einen schönen Begriff: „Leapfrogging“. Er wird vor allem in der Ökonomie und den Wirtschaftswissenschaften verwendet und beschreibt das Überspringen von bestimmten Technologien, um radikal innovativ zu sein und bestehende Marktführer zu überholen. In Entwicklungsländern sind viele Konsumenten statt auf den Desktop direkt auf ihr mobile device gesprungen, weil sie aus ökonomischen Gründen keine andere Wahl hatten. Ist es vielleicht für die deutsche Industrie an der Zeit zu „leapfroggen“ und KI in das Zentrum ihrer Bemühungen zu stellen?


Autor: Markus von der Lühe, CEO und Cofounder der Future Academy

Markus von der Lühe ist an international erfahrener Business Leader mit Startup- und Corporate Background. Er ist CEO und Cofounder der Future Academy, einem Unternehmen, welches für Konzerne und Mittelständler die Kernkompetenzen des 21. Jahrhunderts vermittelt: Digitale Fitness, Handlungsfähigkeit, KI und Neurowissenschaften stehen im Zentrum dieser Kompetenzen. Darüber hinaus veranstaltet die Future Academy das Innovations- und Tech-Festival Year of the X in München, wo sich viele Digitalleute aus der Branche tummeln. Markus lebte 11 Jahre in Australien, baute ein Mobile Business im Silicon Valley auf und ist ein Experte im Bereich KI, digitale Medien und Transformation. Markus war für Unternehmen wie Ogilvy, PwC Consulting, Nielsen sowie msn tätig. Markus ist ein regulärer Speaker sowie Buchautor und Verfasser von Fachartikeln. Markus lebt heute in München.

 

Post Author: Redaktion des ROBINAUT